Von Franz Rader
Ein entschiedener Verfechter des „Österreichischen Deutschs“ ist der aus dem Südburgenland stammende Germanist und Sprachwissenschaftler Rudolf Muhr, der am „Zentrum für Plurilingualismus“ der Universität Graz tätig ist. Professor Muhr leitet dort die „Forschungsstelle Österreichisches Deutsch“ (FÖDT, von 1996 bis 2004 „Projekt Österreichisches Deutsch“). Er hat der „lachsrosa“ gewandeten Wiener Tageszeitung Der Standard ein dort am 3. November 2010 unter dem Titel „Das ist die Auswirkung linguistischer Kriecherei“ ver- öffentlichtes Interview gegeben.
Als „linguistische Kriecherei“ (linguistic cringe) versteht er „eine Überanpassung der Leute, die so gern so sein möchten wie die Großen. Denn klein ist schlecht, weil es im Verdacht steht, sozial niedrig zu sein. Wenn ich auf meinen Normen bestehe, dann bestehe ich auf meiner eigenen Identität. Und wenn ich [...] mir etwas Heimisches anziehe, dann bin ich natürlich altmodisch. [...] Dazu kommt in Österreich noch die spezielle Spaltung der Eliten: Da sind die einen, die Trachtenträger, und da sind die anderen, die das ins Nazi-Eck rücken. Das heißt, es gibt keinen Konsens in der Elite, was österreichische Identität ist. [...]
Wenn das Eigene verdrängt wird, gerät ein guter Teil der Bevölkerung ins Hintertreffen und findet sich [...] in der eigenen Sprache nicht mehr wieder. [...] Gleichzeitig soll niemand sagen ‚nur meine eigene Sprache ist gut, ich lerne keine andere’. Man kann kommunikativ offen sein, ohne das Eigene als überflüssig, schlecht und pro- vinziell zu empfinden. [...]. Die Sprache dieses Landes hier ist nicht Deutsch, sondern Österreichisches Deutsch [...]
Würden wir unsere gesprochene Sprache verschriften und die Kinder damit einschulen, wäre das Ergebnis eine Bildungsexplosion. Viele Kinder, die heute Probleme mit dem Übergang von der gesprochenen Sprache zur Schriftsprache haben – dazu kommen die Schwierigkeiten der derzeitigen Orthographie –, würden viel leichter in die Schriftsprache hineinkommen. [...] Das große Problem in Österreich ist, daß Sprache als Aussonderungssystem verwendet wird und diejenigen, die nicht die richtige Sprache können, keine Chance haben. [...] Wir haben eine internationale Arbeitsgruppe gebildet, um die Phänomene, die es in nichtdominierenden Varietäten plurizentrischer Sprachen gibt, zu untersuchen. [...] Nächstes Jahr werden wir dazu eine Tagung in Graz machen.“
Da Professor Muhr die in Deutschland oder – nach seiner Diktion – die im deutschländischen Deutsch ermittelten „Wörter (und Unwörter) des Jahres“ oft „nicht nachvollziehen“ konnte, hat er eine Jury, bestehend aus sieben Kollegen, gebildet, die aus etlichen „Kandidatenwörtern“ aus Österreich ein Wort oder Unwort auswählt. Das gewählte Wort war 2005 der „Schweigekanzler“ (Wolfgang Schüssel), 2008 der „Lebensmensch“ (eine Wortbildung, die von Thomas Bernhard stammt, aber durch den Politiker Stefan Petzner in aller Munde war), 2009 der „Audimaxismus“ (die Wiener Studierenden besetzten den größten Hörsaal ihrer Universität, das Audimax, im Protest gegen die Unterdotierung des Bildungsministeriums); das Unwort für 2009 war der „Analogkäse“ (eine Lebensmittelfälschung).
Professor Muhr und seine Mitstreiter legen auch Wert auf die Pflege der wichtigsten Zuwanderer- sprachen; dazu gibt es ein unter der Weltnetzadresse www.woerterwelt.at dargestelltes, vom Bildungsmini- sterium gefördertes Projekt.
Wie aber Professor Muhr Kinder aus dem Burgenland, aus Kärnten und aus Vorarlberg auf eine aus der gesprochenen abgeleitete gemeinsame Schriftsprache festlegen will, bleibt sein Geheimnis. Enden wir folgerichtig bei einer landeseinheitlich normierten eigenen Schriftsprache für jedes einzelne Bundesland? Oder bei einem „Zentralösterreichisch“ (für Wien, Nieder- und Oberösterreich, Salzburg) und fünf „Randvarianten“ (Burgenländisch, Steirisch, Kärntnerisch, Tirolerisch, allemannisches Vorarlbergerisch)?
Hinweise:
www.oedeutsch.at / www-oedt.kfunigraz.ac.at
www.oewort.at / www-oedt.kfunigraz.ac.at/oewort
Rudolf Muhr, Richard Schrodt u. Peter Wiesinger (Hrsg.):
Österreichisches Deutsch. Linguistische, sozialpsychologische und sprachpolitische Aspekte einer nationalen Variante des Deutschen. Wien 1995 (=Materialien und Handbücher zum österreichischen Deutsch und zu Deutsch als Fremdsprache, Bd. 2).
Rudolf Muhr (Hrsg.): Zehn Jahre Forschung zum Österreichischen Deutsch 1995–2005. Eine Bilanz. Frankfurt/Main–Wien 2006 (=Österreichisches Deutsch – Sprache der Gegenwart, Bd. 10).
Quelle: Verein Muttersprache - Sprachblätter
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